Kulturstiftung Hohenlohe

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Presseinformationen

"Fliegende Notenblätter und andere Überraschungen" - von Andreas Dehne, 3.7.19, Hohenloher Zeitung

Sie werden überrascht sein. Sie können schockiert sein. Sie werden vielleicht eines der Stücke hassen, aber es können Bilder in ihrem Kopf entstehen.“ Die österreichisch-schweizerische Cellistin Estelle Revaz begrüßt die knapp 70 Zuschauer in der kleinen Kapelle von Schloß Stetten nach der Pause mit dieser ungewöhnlichen Ansage. „Alles ist erlaubt. Alles ist in Ordnung.“ In den ersten 50 Konzertminuten hat sie zwei der sechs Suiten für Violoncello solo von Johann Sebastian Bach gespielt.
Zwei Werke mit hohen Anforderungen, die höchste Virtuosität erfordern – und höchste Konzentration. „Sommerlich Bach“ nennt der Kultursommer die Reihe, in deren Rahmen das Konzert stattfindet. Und sommerlich heiß bei knapp 30 Grad ist es auch. Die 1989 geborene Estelle Revaz scheint bei diesen Temperaturen etwas Anlaufschwierigkeiten zu haben. Türen und Fenster des kleinen Kirchleins werden geöffnet, um für einen Luftzug zu sorgen.
Luftzug Die gutgemeinte Absicht geht auf. Aber mit ihr gehen auch die Notenblätter der Suite Nr. 1 G-Dur für Violoncello – kurz vor der Sarabande. Bei geschlossener Türe dann die Suite Nr. 4 Es-Dur für Violoncello. Wahrhaft „Sommerlich Bach“, ohne störenden Luftzug. Dafür mit viel Schweiß und noch mehr Können. Die Notenblätter bleiben liegen und die Solistin steigert sich mit jedem Satz. Noch vor der Pause legt sie ein wahrhaft grandioses Finale hin.
„Bach & Friends“ nennt der Kultursommer das Programm. Die Freunde hört man aber erst im zweiten Teil. „Es gibt nichts mehr zu verstehen“, erläutert die Cellistin in ihrer Ansprache weiter. „Wichtig ist es einfach, loszulassen. Hören sie auf ihre Gefühle. Ich wünsche ihnen eine angenehme Reise. Wir sehen uns in 50 Minuten wieder.“ Die charismatische Cellistin vertieft sich in ihr Instrument. Sie spielt Werke von Bach im Wechsel mit zeitgenössischen Komponisten, die befreit von fast allen Regeln, denen Bach noch unterworfen war, ebenfalls imposante Werke komponiert haben.
Dem einen oder anderen Zuhörer-Ohr wird das bisweilen sicher etwas wehgetan haben. Neben die barocken Stücken des deutschen Komponisten stellt sie zeitgenössische Musik der Moderne. Die Suite Nr. 3 C-Dur für Violoncello stellt sie zwischen Kompositionen von György Kurtág, einem ungarisch-französischen Komponisten, und Witold Lutos?awski, einem polnischen Komponisten. Die Bourée I & II von Bach wird zwischen „Az hit“ (1998) und den „Sacher Variationen“ (1975) gespielt. Und das ist der Moment, in dem die Cellistin Estelle Revaz so richtig ihre Krallen ausfährt und den Bogen regelrecht tanzen lässt. Sie zelebriert die anspruchsvollen Stücke stimmungsvoll, druckvoll und mächtig.
Berührend Der zweite Teil des Konzertes ist in seiner sehr berührenden, bisweilen fast schon etwas sphärisch anmutend Darbietung der eigentliche Höhepunkt des Konzertes. Estelle Revaz springt scheinbar mühelos vom Barock zur Moderne. Man hat mitunter den Eindruck, die Moderne würde ihr fast mehr Spaß machen als der Barock. Revaz spielt auf einem Violoncello von Giovanni Grancino aus dem Jahr 1679. Bach wurde später geboren.
Mit stehenden Ovationen wird sie von den begeisterten Zuschauern verabschiedet. Damit muss man in der kleinen Kirche auf Schloss Stetten vorsichtig sein. Zu schnell hat man seinen Kopf dabei an der Decke gestoßen. „Ich hoffe, dass Sie diese musikalische Reise genossen haben“, verabschiedet sich die Künstlerin in das spontane „Ja“ der Zuschauer hinein. Eine wahrhaft spannende und meisterhafte dargebotene Vorstellung von Bach und seinen Freunden.